Das Beispiel der experimentellen Psychologie

AUTHOR: Dr. Gerd Döben-Henisch
FIRST DATE: Nov 21, 1995
DATE of LAST CHANGE: Nov 21, 1995



Ein eindrucksvolles Beispiel für die Unzulänglichkeit in der Behandlung bedeutungsrelevanter Phänomene liefert die experimentelle Psychologie. Ihre methodischen Schwierigkeiten sind typisch für eine Vielzahl von anderen Disziplinen, die sich heute mit menschlichem Verhalten im weitesten Sinne beschäftigen.

Wilhelm WUNDT (1832 - 1920), der Begründer der experimentellen Psychologie, akzeptierte in Gestalt der Introspektion noch Erlebnisse als genuine Datenquelle für psychologische Untersuchungen. Mehr noch, er war sich bewußt, daß nur ein kleiner Teil jener Vorgänge, die durch die Introspektion erfaßbar sind, sich durch verhaltensbasierte Experimente `objektivieren' läßt. Nahezu allen höheren, komplexeren introspektiv erfaßbaren Prozessen lassen sich keine direkten Verhaltensäquivalente mehr zuordnen.

Im Versuch, sich einem so erfolgreichen empirischen Paradigma wie dem der Physik anzugleichen, hat die auf WUNDT folgende moderne experimentelle Psychologie Schritt für Schritt Abschied genommen von der Introspektion als Datenerhebungsmethode. John Broader WATSONS behavioristisches Manifest von 1913 Psychology as the Behaviorist Views it brachte zum Ausdruck, was durch zahlreiche andere Autoren auf die eine oder andere Weise schon vorbereitet worden war. Die Introspektion als Methode wurde verbannt; jede Bezugnahme auf ein Bewußtsein abgelehnt. Der moderne experimentelle Psychologe versteht sich nun auch als Beobachter, der die zu untersuchenden Systeme als Input-Output Systeme ausschließlich 'von außen' betrachtet. Aussagen über den Untersuchungsgegenstand sind nur erlaubt, insofern sich diese auf beobachtbare Ereignisse gründen lassen. Die großen Player des Neo- Behaviorismus waren Edward C.TOLMAN, Clark C. HULL und B.F.SKINNER.

Wenn man an der zuvor formulierten Arbeitshypothese festhält, daß es sich bei den verstehensrelevanten Ereignissen um solche handelt, die im Innern des Systems anzusiedeln sind und zwar insoweit, als sie sich im individuellen Erleben erschließen, dann entsteht sofort die Frage, wie denn ein experimenteller Psychologe unter den Bedingungen seiner gewählten Methodik solche inneren Zustände überhaupt erfassen kann.

Das Buch Verbal Behavior von B.F.SKINNER (1957) ist ein klassiches Beispiel dafür, wie eine rein verhaltensorientierte psychologische Sprachtheorie aussehen kann. Die ausführliche Rezension dieses Buches 1959 durch Noam CHOMSKY in der Zeitschrift Language deckte jedoch schonungslos die Schwächen von SKINNERs Ansatz auf. Ohne auf die Details der glänzenden Analyse CHOMSKYs an dieser Stelle einzugehen, sei hier nur der Kern der Kritik festgehalten; CHOMSKY kann zeigen, daß die beobachtbaren Verhaltensdaten durchweg zu redundant sind, um die korrelierenden intuitiv erfaßbaren sprachrelevanten Prozesse rein verhaltensbasiert erklären zu können.

Mit den Mitteln der modernen Wissenschaftstheorie wäre es heute sogar möglich, eine Rettungsaktion für den verhaltensorientierten Ansatz zu starten, so daß er zumindest gegen formale Einwände quasi immun würde. Voraussetzung wäre, daß ein experimenteller Psychologe sich der Mühe unterzeiht, eine wirkliche Theorie zu formulieren, einer Forderung, der C.L.HULL in seinem Hauptwerk von 1943 Principles of Behavior sehr nahe kam. Im Rahmen einer solchen Theorie böte sich die Möglichkeit, beliebig viele sogenannte theoretische Terme einzuführen. Dies sind theoretische Begriffe, denen direkt keine empirischen Gegebenheiten entsprechen, die man aber im Rahmen der Theorie so lange frei benutzen darf, solange ihre Verwendung nicht zu Widersprüchen in der Theorie führt. Im Falle von nichtbeobachtbaren sprachrelevanten Verstehensprozessen könnte man methodisch zulässig dann so viele Annahmen über hypothetische Variablen und deren Wechselwirkung mit den beobachtbaren Daten treffen, wie notwendig sind, um den Spekulationen über mögliche interne Prozesse gerecht zu werden.

Dieses zuletzt geschilderte Vorgehen ist formal korrekt, dürfte aber auf Dauer unbefriedigend wirken, da seine Verankerung im Phänomen zu schwach ist. Dennoch hat diese Vorgehensweise heute ihre Anhänger. Unter dem Eindruck der vernichtenden Kritik CHOMSKYs entwickelte sich das Paradigma der kognitiven Psychologie, später integriert unter dem allgemeineren Label von Cognitive Science. Im Rahmen der kognitiven Psychologie und der Cognitive Science ist man zwar bereit, hinausgend über die Forderungen des radikalen Behaviorismus, wieder spezielle wissensrelevante Prozesse im beobachteten Verhaltenssystem anzunehmen, doch hat man im Prinzip nicht mehr Daten zu Verfügung als die radikalen Verhaltensforscher. Im Rahmen der kognitiven Psychologie und der Cognitive Science wurden bislang auch keine wirklichen Theorien entwickelt. Das Mehr an Annahmen bzgl. interner Prozesse wird in der Regel nur durch die Schaffung eines Computerprogramms quasi-formal abgesichert. Ein solches Vorgehen kann nicht überzeugen. Computerprogramme sind kein Ersatz für vollwertige Theorien. Schlimmstenfalls sind sie eine moderne Version von Märchen: man konstruiert mit vertrauten Elementen etwas Neues, dem aber keine Wirklichkeit jenseits der Darstellungsebene selbst entspricht.

Eine andere Rettungsaktion für die Unzulänglichkeit eines verhaltensbasierten Erklärungsansatzes im Falle von sprachrelevanten Daten bietet sich heute durch einen Rekurs auf die moderne Physiologie, speziell auch der Neurophysiologie, an. Durch die enormen Fortschritte bei der Untersuchung der physiologischen Strukturen des Menschen ist es möglich geworden, äußerlich beobachtbares Verhalten -hier Makrostruktur genannt- mit physiologischen Prozessen im Körper -hier Mikrostruktur genannt- zu korrelieren. Unter Voraussetzung der Signalprozesse in den Nervenleitungen und Neuronen lassen sich immer komplexere Schaltungskreise rekonstruieren, die verschiedenen beobachtbaren Tätigkeiten korrelieren. Die Erarbeitung dieser Korrelation ist das Aufgabenfeld der physiologischen Psychologie bzw. der Neuropsychologie.

Das Dilemma der verhaltensorientierten Psychologie wäre gelöst, wenn man nachweisen könnte, daß es durch den Rekurs auf physiologische Prozesse möglich wäre, ein funktionales Substitut für die erlebnismäßig zugänglichen sprachrelevanten Prozesse aufzuzeigen.

Was auf jeden Fall möglich ist, das ist die Korrelation akustischer Stimuli mit typischen neuronalen Erregungsmustern in spezifischen Nervenbahnen und Arealen des Neocortex. Schwierig wird es aber, wenn man akustische Stimuli hinsichtlich spezifischer Bedeutungsstrukturen neuronal klassifizieren will. Bevor man eine neuronale Zuordnung vornehmen kann, muß man in diesem Fall schon über eine nicht-neuronale Klassifikation verfügen, da ansonsten die korrelierten neuronalen Tatbestände hinsichtlich der intuitiv zugänglichen sprachlichen Bedeutung unbestimmt wären. M.a.W. die Einbeziehung der Physiologie könnte heute eventuell die Möglichkeit bieten, die sprecherintern erlebnismäßig gegebenen sprachrelevanten Prozesse zusätzlich neuronal zu kodieren, aber nur unter Voraussetzung einer funktionierenden sprecherinternen erlebnismäßig gegebenen Bedeutungswelt. Fehlt diese sprecherinterne Bedeutungswelt, ist eine entsprechende Deutung der neuronalen Daten nicht möglich. Die einbeziehung einer solchen sprecherinternen Bedeutungswelt würde den methodischen Rahmen einer Physiologie wie auch einer physiologischen Psychologie sprengen. Protokollierte Selbstaussagen von Versuchspersonen sind kein Ersatz für introspektiv gewonnene Daten!

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, daß die Rettungsversuche für einen verhaltensorientierten Ansatz im Kontext von sprachverstehenden Prozessen als gescheitert gelten müssen. Weder die formale Hochrüstung zu einer Theorie mit theoretischen Termen noch die Einbeziehung der modernen Physiologie versetzen verhaltensorientierte Erklärungsansätze in die Lage, die interessanten Prozesse im Kontext des sprachlichen Verstehens aufzuhellen. Dieses negative Ergebnis betrifft über die genannten Disziplinen hinaus auch so populäre Disziplinen wie z.B. die Phonetik, die Linguistik, die Computerlinguistik, große Teile der Sprachphilosophie, und damit das ganze Konzept der sogenannten Cognitive Science. Auch die Pragmatik ist betroffen, sofern sie, wie SABAH, konstatiert, nur in einer sehr abstrakten Weise über Sprechakte und intentionale Zustände handelt, ohne diese abstrakten Beschreibungen hinreichend an die faßbaren Phänomene anzubinden.

Dieses Ergebnis ist vernichtend, zeigt es doch auf, daß wir mit dem gewohnten wissenschaftlichen Instrumentarium nicht gewappnet sind, ein für uns Mensche zentrales Phänomen, das sprachliche Verstehen, angemessen zu rekonstruieren. Zugleich macht dieses negative Ergebnis aber auch plausibel, warum die gewaltigen Forschungsanstrengungen der letzten 100 Jahre uns im Falle des Sprachverstehens praktisch kaum von der Stelle bewegt haben.
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