Das irreduzible Faktum des Bewußtseins
AUTHOR: Dr. Gerd Döben-Henisch
FIRST DATE: Nov 21, 1995
DATE of LAST CHANGE: Nov 21, 1995
Glücklicherweise bedeutet das Scheitern von Methoden nicht zugleich die
Vernichtung des Phänomens. Vorwissenschaftlich, in unserem Alltag,
praktizieren wir beständig Verstehen, können wir als Menschen
situationsbezogen reagieren, ja wir können sogar jede beliebige natürliche
Sprache lernen. Und es ist auch nicht so, daß wir diese unsere
Sprachtätigkeit völlig unbewußt vollziehen würden; nein. Die Beziehungen
zwischen sprachlichem Ausdrucksmaterial (Lauten, Zeichen, Gesten) und
unterschiedlichsten, z.T. sehr komplexen Vorstellungsgehalten, können wir
uns bis zu einem gewissen Grade bewußt machen; wir können
unterschiedliche Vorstellungen und Dynamiken an unseren Vorstellungen
unterscheiden und wir wissen, daß wir diese Vorstellungen haben. Wenn wir
über diese vor-wissenschaftlich gegebenen Phänomene nicht in der so
beschriebenen Weise verfügen könnten, dann gäbe es auch keinen
Untersuchungsgegenstand für eine mögliche wissenschaftliche
Untersuchung.
Wenn wir also akzeptieren, daß wir in uns einen erlebnismäßigen Zugang zu
Sprachverstehensprozessen haben, und wir gleichzeitig akzeptieren, daß
eine verhaltensorientierte Erklärung ohne direkte Bezugnahme auf diese
Phänomene unbefriedigend, da `willkürlich' ist, dann stellt sich die Frage, ob
es die Möglichkeit der Erklärung von Sprachverstehensprozessen gibt, die
bei dem erlebnismäßigen Zugang der Phänomene ansetzt, ohne daß
dieser völlig willkürlich ist.
Der Ansatz über den erlebnismäßigen Zugang verweist auf die Methode der
Philosophie. Angesichts der Vielfalt von Philosophien und philosophischen
Methoden werde ich mich hier darauf beschränken, nur jene Eigenschaften
der philosophischen Methode herauszustellen, die ich für die Behandlung
des Sprachverstehens relevant finde (Einige wichtige Autoren, die mich hier
beeinflußt haben, seien kurz genannt: R.DESCARTES (1641-47), J.LOCKE
(1689), I.KANT (1787), G.W.F.HEGEL (1807), E.HUSSERL (1913)).
(A1) Im Einklang mit John SEARLE gehe ich davon aus, daß bewußte
Erlebnisse ihre eigene `Ontologie' haben, d.h. ihre Eigenart als Erlebnisse
besitzen sie nur als subjektive Erlebnisse. Losgelöst vom individuellen
subjektiven Erlebnis existieren sie nicht (SEARLE 1992, SS.14-16).
(A2) Die Menge der Erlebnisse konstituiert den Raum des Bewußtseins.
Erlebnisse sind für das Bewußtsein Phänomene, primäre, aber nicht
unbedingt originäre, Gegebenheiten. M.a.W. ein Phänomen ist qua
Phänomen für denjenigen, der es 'hat', im Augenblick des Erlebens, nicht
hintergehbar und in diesem Sinne 'primär'; dennoch kann dieses
Phänomen unter Einbeziehung der 'Erinnerung' als ein Phänomen in einem
'Strom von Ereignissen' identifiziert werden, das sich dann auf vielfältige
Weise als 'In-Beziehung-Stehend' und damit als 'vermittelt' klassifizieren läßt.
Als solches ist es dann nicht mehr unbedingt 'originär'.
(A3) Ein Bewußtsein kann wissen, daß es die Phänomene als Phänomene
hat; es ist reflexiv.
(A4) Eine Philosophie als bewußte Methode kann versuchen, aus der
Perspektive des Wissens die Struktur des Erlebens mit Hilfe einer Sprache zu
explizieren. Neben einer natürlichen Sprache als Basissprache schlage ich
die Verwendung einer formalen Sprache vor, um formale Strukturtheorien
relativ zur Struktur des Erlebens aufzustellen (z.B. HINST (1974), (1991-94)).
(A5) Formale philosophische Strukturtheorien des Bewußtseins lassen sich
durch einen kontrollierten Diskurs in der Basissprache bzgl. der gewählten
Strukturannahmen direkt vergleichen. Offen ist die Frage, in welchem
Ausmaß sich im Falle von Strukturunterschieden Verständigungen über die
zugrundeliegenden Entscheidungen erzielen lassen (Für die Verwendung
des Begriffs Strukturtheorie orientiere ich mich an BOURBAKI (1970) und
LUDWIG (1978)).
(A6) Als zusätzliches Kontroll- und Kommunikationsmittel philosophischer
Strukturtheorien des Bewußtseins werden Computersimulationen erstellt, die
nach Vorgabe der Theorie konstruiert werden. Der Gegenstand einer
solchen Simulation ist ein intelligenter Agent, der die Struktur eines
menschlichen Bewußtseins simuliert, soweit dieses in der Theorie
beschrieben wird (s.u.).
(A7) Das mit (A1)-(A6) intendierte Modell einer formalen computergestützen
philosophischen Strukturtheorie des Bewußtseins versteht sich nicht als
Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Theoriebildung. Durch die
Thematisierung des Beobachters aus der Perspektive seiner Selbsterfahrung
eröffnet sich möglicherweise der Beginn einer Fundamentalwissenschaft
etwa im Sinne einer Verallgemeinerung von LUDWIGs Fundamentalphysik
(S.13f). D.h. der Brückenschlag zwischen den empirischen und den
bewußtseinsorientierten Wissenschaften beginnt dort, wo die empirischen
Wissenschaften bereit sind, über die epistemischen Voraussetzungen
empirischen Theoriebildung explizit nachzudenken. Falls die obigen
Annahmen korrekt sind, sollte das Ergebnis eines solchen expliziten
Nachdenkens sich mit der oben angzielten formalen philosophischen
Strukturtheorie des Bewußtseins adäquat artikulieren lassen. Empirische
Theorien lassen sich dann als spezielle Teiltheorien innerhalb einer solchen
philosophischen Theorie des Bewußtseins rekonstruieren. Die mögliche
Parallelisierung einer physiologischen Theorie des Körpers einschließlich des
neuronalen Systems mit einer philosophischen Theorie des Bewußtseins
wäre hier ein Spezialfall. Bei korrekter Vorgehensweise sollten sich beide
Theorien aufeinander abbilden lassen, ohne daß dies bedeuten müßte,
daß sich die eine dann durch die andere ersetzen ließe. Der heute noch
immer beschworene Gegensatz zwischen Geistes- und
Naturwissenschaften müßte langfristig als methodischer Artefakt
verschwinden.
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