Konstruktion einer Husserl-motivierten Theorie

mit Modellen:


Theoriestatus von Husserls Text






AUTHOR: Dr. Gerd Döben-Henisch
FIRST DATE: July-31, 1996
DATE of LAST CHANGE: July-31, 1996



Die Frage nach dem wissenschaftlichen Stellenwert der interpretierenden Theorie IT ist zu unterscheiden von der Frage des wissenschaftlichen Stellenwertes von Husserls eigenen Texten. Selbst wenn man Husserls Texte bezüglich ihrer Aussagekraft keinen wissenschaftlichen Status zubilligen würde, könnte die interpretierende Theorie als solche einen wissenschaftlichen Wert besitzen. Ebenso, wenn man Husserls Texten einen wissenschaftlichen Status einräumen würde, müßte dies für die interpretierende Theorie nicht so ohne weiteres gelten.

Nun ist der Begriff der Wissenschaftlichkeit kein ahistorischer, nicht ohne Bezug auf einen Kontext zu gebrauchen. Die Frage, wann ein Text als eine wissenschaftliche Theorie zu gelten hat, hängt entscheidend von dem ab, was zu einer bestimmten Zeit als Wissenschaft angesehen wurde. Wie wir heute wissen, sind diese Auffassungen nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich gewesen, sondern auch innerhalb ein und derselben Kultur -wie z.B. der europäischen- hat sich diese Auffassung gewandelt. Husserl selbst hatte Auffassungen von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit, die sich zu Lebzeiten von den Auffassungen anderer unterschieden.

Im Jahre 1996 kann man als Referenzpunkt für die Diskussion unterschiedlicher Konzepte von Wissenschaftlichkeit auf jene Konzepte rekurrieren, die die moderne Wissenschaftstheorie im Kontext der empirischen Wissenschaften erarbeitet hat. Damit soll nun nicht das Konzept der modernen empirischen Wissenschaften zum selbstverständlichen Maßstab erhoben werden, sondern, wie gesagt, nur zu einem Referenzpunkt, relativ zu dem sich möglicherweise weitere sinnvolle Konzepte von Wissenschaftlichkeit etablieren lassen.

Grundelemente des modernen Theoriebegriffs sind eine Klärung dessen, was wissenschaftliche Daten sein sollen und die Forderung, daß sich die Erklärungsaussagen nach Möglichkeit als formale Strukturtheorien fassen lassen, die über der Menge der Daten definiert sind.

Bezogen auf den Menschen kondensiert die empirische Wissenschaft mit Blick auf ihren möglichen Gegenstandsbereich mehr oder weniger zu einer Verhaltenswissenschaft , ein Paradigma, was auch durch Einbeziehung der Physiologie, speziell auch der Neurophysiologie, nicht wesentlich aufgebrochen wird.

Die Bezugnahme auf Erlebnisse , wie sie letztlich im Rahmen einer husserlschen Phänomenologie vorliegt, hat in solch einem empirischen Paradigma keinen Platz.

Soll die Phänomenologie von daher als ‚neuzeitliche Wissenschaft' gerettet werden, dann muß geklärt werden, in welchem Sinne es möglich ist, daß Erlebnisdaten eines individuellen Bewußtseins A mittels eines kommunikativen Prozesses P einem anderen Bewußtsein B so vermittelt werden können, daß ein Text T_L.A von A in der Sprache L von B so verstanden werden kann, daß B im Bereich seines Bewußtseins Strukturen S_B konstruieren kann, die jenen Strukturen S_A von A ähneln, die dieser im Bereich seines Bewußtseins konstruiert und als Bedeutungsgrundlage für seinen Text T_L.A benutzt hat.

Weiter oben waren unter dem Stichwort der ‚Diskurstranszendentalien' Bedingungen herausgearbeitet worden, die mindestens erfüllt sein müssen, damit die Vermittlung individueller Erlebnisstrukturen zwischen zwei Diskursteilnehmern möglich ist. In den daran anschließenden Überlegungen war als prinzipielle Möglichkeit die symbolische Vermittlung von allgemeinen Erlebnisstrukturen angedeutet worden.

Auf der Basis der prinzipielle Möglichkeit der symbolischen Vermittlung von allgemeinen Erlebnisstrukturen legt sich als nächste Überlegung die Frage nahe, wieweit man diese allgemeine Strukturen dann nicht auch in irgendeine formale oder gar nichtsprachliche Struktur abbilden kann. Prinzipiell ist nicht zu sehen, warum dies -bei den vorausgesetzten Annahmen- nicht gehen sollte.

Als Konsequenz daraus ergibt sich. daß man die von Husserl proklamierte phänomenologische Analyse mit den Mitteln moderner Theoriebildung vornehmen könnte, konkret, man könnte sowohl versuchen, formale Strukturen zur Darstellung der Erlebnisstrukturen zu benutzen wie auch andere Arten von Modellen, graphische wie auch Prozeßmmodelle analog einer Turingmaschine.

Eine mit formalen Mitteln durchgeführte Theorie wäre im Sinne der modernen Wissenschaftstheorie eine Theorie mit Gegenstandsbereich (Erlebnisse), Meßverfahren (phänomenologische Analyse), Datenprotokollen (deskriptive phänomenologische deskriptive Texte) und Theorie (formale Strukturtheorie, ergänzt durch diverse Modelle).

Eine solche phänomenologische Strukturtheorie wäre aber nach heutigen Maßstäben keine empirische Theorie.

Eine phänomenologische Strukturtheorie stellt einen neuen Typus von wissenschaftlichen Theorien dar, mit völlig neuen Anforderungen an die Theoriekonstruktion. Es ist der Typ einer philosophischen Theorie, die im Verhältnis zu empirischen Theorien als Fundamentalwissenschaft aufzufassen ist.






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