Konstruktion einer Husserl-motivierten Theorie
mit Modellen:
Erste Reflexionen zu den Daten
AUTHOR: Dr. Gerd Döben-Henisch
FIRST DATE: July-31, 1996
DATE of LAST CHANGE: July-31, 1996
Mittels des Objekttextes OT von Husserl versucht Husserl phänomenologische Beobachtungen
sprachlich zu artikulieren.
Der Gegenstand dieser phänomenologischen Beobachtungen sind seine ‚eigenen' Erlebniszustände.
Das Medium der Artikulation ist die deutsche Sprache mit ihrer Syntax und ihrer spezifischen
Semantik und Pragmatik. Dies bedeutet, wenn Husserl ein bestimmtes Wort dieser Sprache
verwendet, um damit auf Husserl-konkrete Erlebnisgegebenheiten Bezug zu nehmen, dann kann er dies nur tun unter Voraussetzung der in dieser Sprache üblichen Verwendungsweisen und intendierten
Denotaten
.
Wenn -im einfachen Fall einer Benennung- in der Artikulationssprache L ein bestimmtes
Wort W ‚normalerweise' so verwendet wird, daß unter den Kontextbedingungen K das
Denotat D ‚intendiert' ist, dann muß Husserl bei seiner Verwendung_h des Wortes W
sowohl darauf achten, ob die Kontextbedingungen K ‚gewahrt' sind, wie auch, ob die von ihm
zu artikulierende Husserl-konkrete Erlebnisgegebenheiten E
mit dem sprachseitig intendierten Denotat D
‚übereinstimmt'.
Ohne ein gemeinsam akzeptiertes Wort W mit K und D müßte Husserl seine deskriptiv-theoretischen
Begriffe ganz neu in den Diskurs einführen. Dies könnte verstanden werden als sprachfreie
oder als sprachlich gestützte
Einführung.
Die Datenbasis zu Husserl legt die Interpretation nahe, daß Husserl keine sprachfreie Einführung
vornimmt. Diese wäre, wenn überhaupt, auch nur in einer direkten Interaktion mit
den Beteiligten möglich.
Eine sprachlich gestützte Einführung benutzt schon akzeptierte sprachliche Mittel
als gemeinsam geteilte Voraussetzungen, aufgrund deren neue Worte mit neuen Verwendungen
eingeführt werden. Ein spezieller Fall wäre die Verwendung schon bekannter Worte
, für die man durch Abwandlung der Kontextbedingungen K und der intendierten Denotate
D eine neue Verwendungsweise
konstituiert.
Bei Husserl kommen beide Fälle vor: er führt neue Worte mit neuen Denotaten ein (wie
z.B. ‚Noesen', ‚Noema'....) und er benutzt schon bekannte Worte, denen er einen mehr
oder weniger ‚neues' Denotat unterlegt (z.B. ‚Bewußtsein', ‚Intentionalität', ‚reines
Ich', ‚Reflexion' ...).
Wenn Husserl ein neues Wort W mit einem neuen Denotat D in die Theoriesprache L einführt,
wobei D = Husserl-konkrete Erlebnisgegebenheiten E
sein soll, dann stellt sich sofort die Frage, auf welche Weise ein anderer
Teilnehmer X ‚hinreichende Kenntnis' von D_E bekommen kann.
Ganz generell scheint es doch so zu sein, daß Husserl ein beliebiges Erlebnis E nur
dann als mit einem anderen Diskursteilnehmer X ‚geteiltes Denotat D' ‚einführen'
kann, wenn sich E entweder mit einem Sachverhalt S in Beziehung setzen läßt, der
auch jedem anderen Teilnehmer X zugänglich
ist, oder aber bei E handelt es sich um einen ‚Erlebnis-Typ', der als solcher auch
bei jedem beliebigen anderen Diskursteilnehmer X auftreten
kann. Da der Fall mit der Beziehung von E zu einem Sachverhalt S den allgemeineren
Fall darstellt, diskutieren wir im Folgenden nur diesen.
In welchem Sinne kann es Erlebnisgegebenheiten S geben, die bei verschiedenen Diskursteilnehmern
‚hinreichend ähnlich' sind?
Fall 1: Ein Erlebnissachverhalt S korreliert mit einem -postulierten- intersubjektiv
gegebenen Gegenstand G.
Die -postulierte- raum-zeitliche Existenz eines Gegenstandes G bietet einen hinreichenden
Erklärungsgrund, warum unterschiedliche Diskursteilnehmer zu ‚ähnlichen Reaktionen'
kommen, die sie mit einem korrelierenden Erlebniskomplex S korrelieren können. Ein -postulierter- Gegenstand G ermöglicht somit die ‚Synchronisation' von individuellen
Erlebniskomplexen (z.B. S_h und S_X). Auf diese kann dann sprachlich Bezug genommen
werden. Ferner kann jeder Teilnehmer dann konkrete Erlebnisse (z.B. E_h und E_X),
die mit diesen so handlungsmäßig bestimmten Erlebniskomplexen S ‚ähnlich' sind, auf S
‚beziehen', und dem anderen Teilnehmer berichten, daß er ein konkretes Erlebnis E
habe, das mit dem gemeinsam etablierten Denotat S ‚ähnlich' sei. Relativ zu S könnten
dann die Diskursteilnehmer ein -wenngleich leicht ‚unscharfes'- Denotat zu E aufbauen.
Fall 2: Ein Erlebnissachverhalt S korreliert mit einem -postulierten- intersubjektiv
erfahrbarem Verhalten V.
Dieser Fall ähnelt Fall 1. Über ein -als intersubjektiv unterstelltes- Verhalten lassen
sich individuelle Erlebniskomplexe S synchronisieren und dadurch als Denotate einführen.
Fall 3: Ein Erlebnissachverhalt hat keine ‚natürliche' Entsprechung weder in einem
_intersubjektiv unterstellten- Gegenstand G noch in einem Verhalten V.
Zu diesem Fall gehören solche Ereignisse wie ‚etwas erinnern', ‚etwas folgern', ‚etwas
vorstellen' usw.
Die Tatsache, daß wir im Alltag ‚faktisch' über solche Erlebnisse wie Erinnerungen,
Vorstellungen etc. sprechen, deutet darauf hin, daß diese Phänomene nicht völlig
außer Reichweite sein können.
Eine erste Erklärung dafür, daß solch eine Kommunikation im Alltag tatsächlich statthaben
kann, wäre die Annahme, daß es Erlebnisklassen
, Veränderungsprozesse
wie auch allgemeine Strukturen
in jedem Bewußtsein gibt, die ‚hinreichend ähnlich' sind. Falls es solche strukturalen
und prozeduralen Ähnlichkeiten gäbe, wäre eine generelle
Verständigung möglich, sofern die Diskursteilnehmer nur die Möglichkeit besitzen,
jeweils kenntlich zu machen, welche dieser allgemeinen, in jedem Bewußtsein vorfindbaren,
Strukturen und Prozesse konkret gemeint ist. Ist z.B. ein bestimmter allgemeiner
Prozeß erst einmal ‚identifiziert', dann kann darauf und auf eine Fülle von damit zusammenhängenden
Details indirekt Bezug genommen werden.
Die ‚Identifizierung' bzw. ‚Selektierung' setzt wiederum voraus, daß es entweder ‚Ähnliches'
gibt oder aber, daß sich die Beziehung zu Verhaltensmomenten herstellen läßt. Um
einen unendlichen Regreß zu vermeiden, muß angenommen werden, daß es ‚in einigen
Fällen' möglich sein muß, solche ‚Verhaltensanbindung' zu realisieren.
Im Falle des ‚Erinnerns' gibt es im Alltag z.B. das Phänomen des ‚Wiedererkennens'
von ‚frühester Kindheit an'. Das Wiedererkennen ist in der Regel an konkrete Handlungssituationen
gebunden, in denen ein Gegenstand, ein Ereignis oder eine Person ‚auftritt', von der man ‚weiß', daß man ihn/sie ‚schon einmal' wahrgenommen hat. Dieses Erlebnis
ist ‚reproduzierbar' und läßt somit die Etablierung des Denotates ‚Erinnerung' mit
Bezug auf die damit ‚intern' gegebenen Erlebniskomplexe zu. Relativ zu solch einem
‚Gesamtkomplex' lassen sich dann weitere Details oder Spezialprozesse einführen, vorausgesetzt,
es handelt sich dabei um solche Erlebnisse, die in jedem
Bewußtsein auftreten.
Die alltägliche Kommunikationspraxis legt also die Annahme nahe, daß (i) die verschiedenen
individuellen Erlebnisströme nicht völlig verschieden sind, sondern ein ‚hohes' -wie
hoch?- Maß an struktureller Ähnlichkeit aufweisen; (ii) durch Verhaltensanbindung lassen sich allgemein geteilte Erlebnisstrukturen synchron als verhaltensinduzierte
intendierte Denotate einer Sprache einführen; (iii) relativ zu solchen verhaltensinduziert
intendierten Denotaten lassen sich weitere individuelle Erlebnisgegebenheiten als intendierte Denotate einführen, deren Verhaltensanbindung nicht direkt möglich
sein muß.
Die unter (i) - (iii) thematisierten Voraussetzungen wollen wir hier Diskurstranszendentalien
nennen.
Die von Husserl postulierte Vorausssetzungslosigkeit der phänomenologischen Analyse
muß also nach diesen Überlegungen zumindest insoweit relativiert werden, daß aufgrund
der Verwendung einer Sprache als Artikulationsmedium die soeben thematisierten Diskurstranszendentalien angenommen werden müssen, da sonst seine Art des Vorgehens ‚nicht
transparent' ist.
Eine Konsequenz der Annahme dieser Diskurstranszendentalien besteht darin, daß die
Artikulation phänomenologischer Sachverhalte zunächst einmal klar sprachabhängig
in dem Sinne werden, daß die zu kommunizierenden Sachverhalte in einem ersten Schritt
an eine bestimmte, konkrete Sprache gebunden werden. Jede Sprachgemeinschaft, die
diese Sachverhalte auch kommunizieren will, muß diesen Vermittlungsprozeß Schritt
für Schritt unter ihren je eigenen Bedingungen wiederholen. Ein direkter Vergleich von
möglichen gemeinsamen Strukturen wäre so kaum möglich.
Eine größere Sprachunabhängigkeit und damit auch eine größere Allgemeingültigkeit
ließe sich nur erreichen, wenn es gelänge, die zu kommunizierenden Inhalte in einer
sprachunabhängigen Struktur
darzustellen, die für alle Einzelsprachen gleich
wäre.
Die moderne Mathematik stellt ein Beispiel dar, wie das menschliche Denken sich ein
Darstellungsmittel geschaffen hat, das weitgehend unabhängig von natürlichen Sprachen
die Repräsentation allgemeiner Strukturen und Prozesse erlaubt. Die Verwendung solcher allgemeiner formaler Strukturen in ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen
zur Darstellung der hier beobachtbaren Strukturen und Prozesse zeigt, daß solche
Darstellungsmittel tatsächlich einen kognitiven Nutzen
haben.
Es stellt sich also die Frage, ob und -falls ja- wieweit sich die intendierten Denotate
von Husserls phänomenologischen Analysen möglicherweise anders als nur mit den Mitteln
der natürlichen Sprache darstellen und darin kommunizieren lassen.
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