VIRTUAL SPACE EXPLORERS



Das neue Forschungskonzept des INM
Gesellschaftspolitische und technologische Aspekte
- Version 4.11.96 -

von
Gerd Döben-Henisch
(Mit zahlreichen Anregungen durch Teilnehmer des Unplugged Heads Seminar, insbesondere durch Peter Frank, Gabriele Grammelsberger, Markus Fix , Gabriel M. Trischler und Michael Klein)



In der kurzen, jedoch sehr bewegten Geschichte des INM deutet sich ein neuer Abschnitt an. Ab November 1996 wird das INM unter dem Label VIRTUAL SPACE EXPLORERS mit einem erneuerten Konzept an die Öffentlichkeit treten. Dies ist notwendig, um die Eigenständigkeit des Instituts für Neue Medien INM gegenüber der im Frühjahr 1996 gegründeten inm numerical magic mbh hinreichend stark zu akzentuieren.



INM-VISION EINER TERRA INCOGNITA DIGITALIS


Der Hauptgegenstand der künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen des INM liegt in der experimentellen Erforschung neuartiger digitaler Modellwelten im Rahmen von Netzen.

Die neuen, visionierten digitalen Modellwelten sind Objekte der realen Welt, die zugleich die reale Welt um neuartige Wirklichkeitsgestalten erweitern. Diese neuen 'real-virtuellen' Wirklichkeiten sind dabei nicht einfach statische Abbilder von Teilbereichen der realen Welt, sondern sie können eine Eigendynamik entwickeln, die dazu berechtigt, von autonomen virtuellen Welten zu sprechen, die quasi als Parallelwelten fungieren können.

Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es weltweit weder eine erschöpfende Theorie solcher Parallelwelten noch ein klares Bewußtsein darüber, in welcher Art von Beziehungen solche Parallelwelten zu individuellen wie auch gesellschaftlichen Bedürfnissen stehen können. Künstlerisch wie wissenschaftlich handelt es sich daher um eine wirkliche terra incognita analog den Zeiten der großen geographischen Entdeckungen des 15./16. Jahrhunderts.

Es ist das erklärte Ziel des INM einen substantiellen Beitrag zur Erforschung dieser terra incognita digitalis zu leisten.


DIE STETIGE EXPANSION DER VIRTUALITÄT


Ein zentraler Begriff im Kontext von Netzen und digitalen Modellwelten ist der Begriff der Virtualität.

In den folgenden Überlegungen wird der Begriff der Virtualität als Gegenpol zum Begriff der Realität benutzt; Realität hier verstanden als Bezeichnung für jene Wirklichkeit, die in der Körpererfahrung des Menschen gründet: der Körper selbst, Handlungen des Körpers, die verschiedenen sinnlichen Erfahrungen. Relativ zu dieser körperlichen Realität lassen sich mindestens zwei Formen von Virtualität unterscheiden.

Virtualität_1 bezeichnet jene Wirklichkeit, die sich dem Menschen in seinen Vorstellungen, Erinnerungen, Gedanken usf. zeigt. Gedachtes ist 'wirklich', nicht aber körperlich.

Virtualität_2 ist eine Wirklichkeit, die durch die Ausführung von Simulations-Prozessen auf einem Computer möglich wird. Computer können Zustände erzeugen, die für uns 'wirklich' erscheinen, sie sind sogar 'sinnlich erfahrbar', und dennoch sind sie nicht in der körperlichen Realität verwurzelt.

War die Virtualität_2 ursprünglich auf einen einzelnen Computer beschränkt, hat sie jetzt durch die globale Vernetzung eine neue Qualität gewonnen: das einzelne erscheint zwangsweise als Teil eines Ganzen; es gibt keine isolierten Texte oder Ereignisse mehr. Der eine große Weltcomputer ist Realität geworden!

Was dies bedeutet, läßt sich am besten durch Rückgriff auf eines der wichtigsten wissenschaftlichen und philosophischen Konzepte dieses Jahrhunderts verdeutlichen: durch die universelle Turingmaschine UTM (für eine kurze Darstellung siehe den Anhang).

Das zur Zeit wohl wichtigste weltweite Netz, das World Wide Web WWW , läßt sich nämlich als eine solche universelle Turingmaschine interpretieren.

Die Menge der Adressen im WWW samt den zu den Adressen gehörigen Inhalten bilden in dieser Interpretation das Band der universellen WWW-Turingmaschine. Relativ zu diesem Band lassen sich genau drei Operationen ausführen: (1) Man kann eine neue Adresse auswählen , (2) man kann die Inhalte einer Adresse lesen , und man kann (3) auf Aktionsangebote reagieren . Privilegierte Benutzer können darüber hinaus auch noch (4) die Inhalte der Adressen ändern bzw. (5) sie können bisherige Adressen löschen oder neue Adressen hinzufügen .

Wie bei einer normalen Turingmaschine -z.B. in Form eines PCs- kann auch bei der universellen WWW-Turingmaschine der Mensch als Akteur auftreten. Für alle anderen Teilnehmer einer universellen WWW-Turingmaschine ist aber der spezifisch menschliche Charakter eines Teilnehmers prinzipiell nicht mehr zu erkennen. Jeder Teilnehmer an einer universellen WWW-Turingmaschine kann nur teilnehmen, indem er sich der Virtualität_2 der Maschine angleicht; innerhalb der Virtualität_2 aber sind 'alle Katzen grau'; hier gibt es nur noch virtuelle Gößen. Ob ein Musikstück von einem Computer erzeugt wurde oder von einem Menschen, ein Bild von einem Computer generiert wurde oder von einem Menschen, der Dialogpartner ein KI-Programm ist oder ein realer Mensch, alle diese Fragen lassen sich in einer universellen WWW-Turingmaschine prinzipiell nicht mehr entscheiden.

Die Virtualität_2 einer universellen WWW-Turingmaschine macht jegliche Realität unsichtbar; die Realität in Form von Menschen wird 'maskiert'. Im Medium der Virtualität gibt es nur noch Virtualität.

Dies ist grundsätzlich nichts Neues. Auch in der Virtualität_1 einer mathematischen Theorie ist eine gedachte Zahl kein reales Objekt. In Gesetzestexten entsprechen Begriffe wie 'Bauherr', 'Auftragnehmer', 'Erbe' und dergleichen zunächst auch nur idealen Größen, deren Identifizierung mit realen Objekten eine eigenständige Interpretationsaufgabe von Juristen darstellt.

Die neue Qualität einer global vernetzten Virtualität_2 innerhalb der universellen WWW-Turingmaschine besteht darin, daß es sich hier um eine kollektive Virtualität_2 handelt, die sich durch ihre täglliche Nutzung mehr und mehr in den Köpfen der Menschen einnistet und deren Wahrnehmung, Wissen und Urteilen beeinflußt. Da die Menschen gar nicht anders können, als die Realität durch die Brille der Virtualität anzuschauen , kommt dieser neuen universellen WWW-Turingmaschine mit ihren Auswirkungen, aber auch ihren neuartigen Möglichkeiten, eine fundamentale Bedeutung zu.

Bis zu welchem Grade die bisherige Identität und der bisherige Werte-Kosmos der Menschen verändert oder gar völlig aufgelöst wird, ist eine reale Frage, die zur Zeit niemand beantworten kann. Andererseits kommen wir als heute hier und jetzt Lebende nicht um die Frage herum, wie wir trotz fehlenden Zukunftswissens mit dieser neuen Technologie umgehen sollen.

Im Folgenden werden zwei Varianten eines möglichen Vorgehens erörtert.



KUNST UND GRUNDLAGENFORSCHUNG ALS REINE ARS COMBINATORIA?


In der ersten Variante wird der Fall angenommen, daß man die möglichen Strukturen eines Netzes quasi 'an sich' untersucht, d.h. man versucht von möglichen realen Kontexten weitgehend abzusehen. Insbesondere wird auch vom agierenden Künstler oder Forscher abstrahiert und nicht auf deren speziellen Voraussetzungen reflektiert. Man untersucht die 'Virtualität_2 an sich '.

Eine solche Untersuchung führt entweder zu einer reinen Strukturtheorie ähnlich der reinen Mathematik oder der formalen Logik, oder -mehr aus dem Blickwinkel der Kunst- zu einer experimentellen ars combinatoria, deren Inhalt darin besteht, kreativ mit den Möglichkeiten zu spielen, um auf diese Weise die Möglichkeitsräume praktisch -und damit irgendwie auch sinnenfällig, ästhetisch- wahrnehmbar zu machen.

Eine so verstandene experimentelle ars combinatoria entspricht auch dem Konzept einer radikaler Grundlagenforschung, die nicht durch tagesbedingte, vordergründige oder zufällige Interessen geleitet wird, sondern durch Fragen nach grundlegenden, allgemeinverbindlichen Eigenschaften.

So wertvoll eine solche 'reine' Form von Kunst und Wissenschaft in vielfacher Hinsicht sein mag, so zeigen sich doch überall dort Grenzen, wo es darum geht, den konkreten Bedürfnissen und Interessen von Menschen im Alltag gerecht zu werden. Dies verdeutlicht z.B. die Stadt-Architektur, die eine Zwitterstellung zwischen Kunst und Ingenieurskunst (Handwerk ) einnimmt, besonders klar.

Im Fall der modernen Ballungsräume tut sich die Architektur -aber nicht nur diese- sehr schwer, das komplexe Wechselspiel der beteiligten Kräfte adäquat zu erfassen. Der Versuch, hier gestalterisch einzugreifen, gerät leicht zu einem Willkürakt: "Jeder hat Recht; aber nichts ist richtig" (Wolf D.Prix, FR 22.10.96, S.10). Eine rein abstrakte, kombinatorische Behandlung von Teilaspekten wirkt in diesem Kontext nicht nur beliebig, sondern kann, gemessen an den Bedürfnissen der Menschen, einen zynischen Charakter annehmen.

Will man dem Nihilismus der Beliebigkeit entkommen, dann muß man den Menschen als konstitutiven Bezugspunkt in das Kalkül einbeziehen. D.h. die Virtualität_2 der reinen Strukturen sollte in der Realität der Menschen und der gesamten realen Welt hinreichend verankert sein. Wie aber könnte eine solche Alternative beschaffen sein?



CHAOS, UND WIE SICH MIT IHM ARRANGIEREN?


Ein erster spontaner Ansatz könnte versucht sein, eine Struktur Reale Welt RW zu definieren, in der neben den Netzen NZ auch die Menschen HUM samt diversen anderen Weltobjekten WO Gegenstand der Betrachtung wären, dazu diverse Beziehungen (Relationen R_rw) zwischen den Objekten sowie verschiedene Gesetzmäßigkeiten (Axiome A_rw). Eine solche Struktur hätte die Form:

RW(x) iff x = <<HUM, NZ, WO>, R_rw, A_rw>

Nun wissen wir aber heute, daß große Teile der uns bekannten realen Welt sich für uns als menschliche Betrachter als nichtlineare Systeme darstellen, die Phasenräume besitzen, denen ein sogenanntes chaotisches Verhalten korrespondiert.

Die uns umgebende reale Welt zwingt uns, diese Welt als ein Bündel von Prozessen zu begreifen, die aufs engste miteinander vernetzt sind. Zwar kann man näherungsweise versuchen, die Strukturen der hier waltenden Rückkopplungen anzunähern, doch ist eine erschöpfende Voraussagbarkeit des möglichen zukünftigen Verhaltens prinzipiell unmöglich.

Die Einbeziehung des Menschen in die Betrachtung verschärft die Problemstellung, denn jeder einzelne Mensch mit den ihm inhärenten Freiheitsgraden ist selbst auch ein rückgekoppeltes nichtlineares System, dessen zukünftiges Verhalten sich jeder sicheren Voraussage entzieht.

Für das Projekt einer theoretischen Beschreibung der realen Gesellschaft und ihres möglichen Verhaltens folgt aus diesem Sachverhalt, daß es niemals eine Theorie RW geben kann, die das Verhalten der realen Welt einschließlich der Menschen voraussagen kann . Es wird sie nicht einmal für solche Teilbereiche wie Finanzmärkte, Aktienmärkte, Warenbörsen etc. geben.

Will man sich aufgrund dieser Sachlage dem 'chaotischen Treiben' nicht völlig gestaltungsfrei ausliefern, bleibt nur die Möglichkeit, nach Strategien zu suchen, das unserer Welt inhärierende potentielle Chaos 'so gut wie möglich' zu kontrollieren.

Eine -und das ist die klassische- Lösungsstrategie wäre jene, die versucht, die möglichen Quellen chaotischen Verhaltens, nämlich die impliziten Freiheitsgrade eines Systems, möglichst weitgehend zu reduzieren. Im Falle der Menschen würde dies bedeuten, durch Anwendung von Macht und Autorität die Mehrheit der Menschen mit einem sanktionierten Regelsystem zu überziehen, das eine gewisse Gewähr dafür bietet, daß das selbstbestimmte Verhalten der Menschen sich weitgehend in festgelegten Handlungskorridoren bewegt. Aus der Geschichte -und leider auch aus der Gegenwart- lassen sich hinreichend Beispiele beibringen, wie man solche, letztlich totalitären Gesellschaften verwirklicht.

Unter den vielen negativen Aspekten einer solchen Strategie sei vor allem jener herausgegriffen, der besagt, daß mit der Reglementierung der Menschen auch das Erneuerungs- und Innovationspotential, das ein sich selbst organisierendes System bieten kann, weitgehend vernichtet wird. In der jüngsten Vergangenheit haben sich totalitäre Systeme in der Konkurrenz der Gesellschaftssysteme als die weniger leistungsfähigen erwiesen.

Eine alternative Strategie wäre jene, die nicht versucht, die Freiheitsgrade einzuschränken, sondern darum bemüht ist, jene Bedingungen herzustellen, die eine optimale Nutzung des Selbstbestimmungspotentials erlauben und damit auch die darin gründenden Innovationspotentiale direkt für den gesellschaftlichen Prozeß nutzbar zu machen.

Eine NICHTLINEARE GESELLSCHAFT NGES bestände demnach aus Teilnehmern, die selber wiederum als nichtlineare, selbstbestimmte Systeme (HUM, NZ, AGENT) aufzufassen wären, die untereinander in vielfältigen Rückkoppelungsbeziehungen R_nges stehen.

NGES(x) iff x = <<HUM, NZ, AGENT, WO>, R_nges, A_nges>

Aufgrund der alles umfassenden Nichtlinearität kann solch eine Gesellschaft vorweg kein absolutes Wissen um ihre möglichen Zukünfte haben. Sie kann nur versuchen, durch die Art, wie sie gegenwärtig 'mit sich selbst' umgeht, möglichst optimale Bedingungen zu schaffen, um möglichst viele der 'erstrebenswerten' Fortsetzungen in interessante 'Zukünfte' hinein in der Gegenwart 'vorwegzunehmen'. Nur so kann jener nächste Schritt gefunden werden, der 'eher' in die 'richtige' Richtung führt als seine Alternative.

Da prinzipiell jeder einzelne für das Gesamtsystem potentiell einen bahnbrechenden Beitrag leisten kann, ohne daß das Gesamtsystem von vornherein weiß, wer dies wann tun wird, besteht die ideale Forderung darin, (P1) jedem einzelnen so viel Handlungs- und Denkraum zu geben wie möglich, gleichzeitig aber (P2) jeden einzelnen so umfassend wie möglich mit allen anderen kommunikativ zu verbinden. Neben der reinen Kommunikation spielt aber auch (P3) das Verstehen der Komplexität eine zentrale Rolle; dies verlangt nach immer besseren Verstehenswerkzeugen wie z.B. Simulationsmodellen oder gar Verstehensagenten.

Postulate P2 und P3 betreffen mehr oder weniger direkt die Frage von Netzwerken, Modellwelten und Agenten.



IM ANGESICHT EINER NEUEN KULTURTECHNIK DIE SCHRECKSEKUNDE ÜBERWINDEN


Die bewußte Nutzung der sich gerade erst entwickelnden Technologie der Netze und der digitalen Modellwelten ist für alle Beteiligten weitgehend Neuland, eine terra incognita des anbrechenden 21. Jahrhunderts. Umfassende Experten zu dieser Aufgabenstellung gibt es nicht und kann es auch prinzipiell nicht geben. Die Kunst, wie man das gesellschaftliche Chaos mit Hilfe solcher neuer Technologien möglicherweise besser ausnutzen kann, kann nur in vielen kleinen Schritten gemeinsam erarbeitet und dadurch erlernt werden. Möglicherweise muß man hier sogar von einer neuen Kulturtechnik sprechen, die kollektiv zu erwerben ist. Dabei ist zu beachten, daß es nicht nur um die rein technischen Fragen von Netzen und Computerprogrammen geht, sondern nicht zuletzt auch um deren gesellschaftliche Integration, um die Gestaltung einer neuen humanen Identität.

Was läßt sich zu möglichen Experimentierfeldern zum Thema netzbasiertes Kommunizieren und Verstehen sagen?

Möglicherweise werden nicht wenige dieser Experimentierfelder in den Industrieländern durch die Kräfte der profitorientierten Märkte entstehen.

Jenseits der reinen Profite, der Wirtschaft vorgelagert, gibt es einen Handlungsbedarf, der auch das Feld der Politik umfaßt. In dieser Perspektive erscheinen Politiker als Manager des Chaos, die mit allen anderen zusammenarbeiten müssen, untereinander verbunden durch das Medium von geeigneten Netzen.

Ein wichtiges Experimentierfeld wird u.a. die Bildungs- und die Kommunalpolitik sein müssen. Doch bewegt man sich hier in einem besonders schwierigen Gebiet. Die Regelungsdichte ist extrem hoch. Die Bataillone der Kritik sind stark, zugleich vielschichtig und widersprüchlich. Gute Konzepte sind rar; wo sollen sie auch herkommen, wenn die Betroffen untereinander zerstreut und für die Erprobung interessanter Alternativen die Handlungsräume versperrt sind.

Wenn die vorausgehenden Überlegungen stimmen, wird es grundsätzlich keine Ideallösungen vom grünen Tisch geben können. Die einzige Hoffnung besteht darin, durch eine 'kontrollierte Erweiterung' der Selbstbestimmung das System dazu zu bringen, aus sich selbst mehr Innovationen freizusetzen als dies bislang durch die lähmenden Reglementierungen möglich ist. Ohne umfassende Experimente wird man keine neuen Einsichten gewinnen können.

Die Konfrontation mit einer neuen Kulturtechnik muß aktiv beginnen. Noch aber befindet sich die Gesellschaft -insbesondere die Schulen und die Kommunalpolitik- in der Schrecksekunde zwischen den Epochen, wie Kultusminister Holzapfel es in jüngster Zeit mehrfach formuliert hat (FR 24.10.1996, S.III, Main-Kinzig-Kreis).

Man kann sich fragen, warum z.B. die Schulen immer nur die Nachzügler der Gesellschaft sein sollen; warum nicht eigentlich die Vorreiter? Liegt doch das größere kreative und innovative Potential allemal bei der jüngeren Generation, nicht bei den Alten. Warum also nicht mit der Jugend den Aufbruch in die Zukunft vorbereiten?

Im Folgenden wird ein kleines Beispiel skizziert, das sich nicht als 'Lösung' der anstehenden gewaltigen Aufgabe versteht, sondern als ein Denkanstoß, der möglicherweise einen der vielen kleinen Schritte vorbereiten kann, der geforderten ist.



DURCH SYNERGIE ZUM ERFOLG?


In diesem Modell wird versucht vier Partner in einer neuen Symbiose zusammenzuführen, die bislang künstlich voneinander getrennt sind: die Schulen, die Kommunen, die Unternehmen und die Forschung.


Forschung

Die Forschung untersucht und entwickelt die Technologie der Netze und der digitalen Modellwelten mit diversen intelligenten Agenten als ein Werkzeug, das die Kommunikation, das Lernen und Verstehen innerhalb großer, heterogener Gruppen ermöglichen und verbessern soll. Parallel wird eine nichtlineare dynamische Theorie gesellschaftlicher Prozesse entwickelt, welche u.a. die Szenarien möglicher gesellschaftlicher Kontexte für eine optimale Nutzung von Netzen untersucht. Im einzelnen sollte die Forschung die technischen Voraussetzungen für die folgenden vier politischen Aufgabenstellungen einzulösen suchen:

(P4) Jeder muß über freie und zugleich geschützte netzgebundene Kommunikationswege verfügen, die es ihm erlauben, mit allen Beteiligten Mitteilungen auszutauschen.

(P5) Zu allen wichtigen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens muß es -den Einkommen angepaßte- 'billige' (bis kostenlose) Datenbanken geben bzw. jeder sollte die Möglichkeit haben, selbständig Datenbanken zu jenen Wirklichkeitsbereichen anzubieten, die er für das gesellschaftliche Leben für wichtig hält.

(P6) Zu allen wichtigen Aspekten unserer Welt muß es leistungsfähige Simulationsmodelle geben, die dem einzelnen ein 'Verstehen' ermöglichen; auch diese Simulationen müssen jedem zugänglich sein. Gleichzeitig sollte jeder über die Möglichkeit verfügen, selbst auch simulative Erklärungsmodelle anbieten zu können.

(P7) Es wird hier angenommen, daß langfristig aber ein sehr drängender Bedarf an aktiven Verstehenshilfen besteht. Darunter sind solche Computerprogramme zu verstehen, die 'aus sich heraus' zu dedizierten Lern- und Intelligenzleistungen in der Lage sind. Darunter fällt eine ganze Palette sehr unterschiedlicher Programme. Eine spezielle Kategorie stellen sogenannte Knowbots dar. Ein Knowbot ist einerseits in der Lage, ähnlich wie Menschen zu lernen und zu kommunizieren, andererseits aber erlaubt ihm die Technik, die biologisch bedingten Kapazitätsgrenzen des menschlichen Gehirns zu überschreiten.


Schulen


Die Schulen stehen im direkten Kontakt zu dieser Forschung. Die Lehrer frischen ihr Wissen direkt an der Quelle auf. Die technologische Infrastruktur der Forschung wird von den Schulen mitbenutzt, dadurch einem Dauer-Praxis-Test unterzogen. Die Schüler können sich über Arbeitsgemeinschaften und Projektgruppen direkt an Zukunftstechnik und Zukunftsthemen beteiligt werden. Unter anderem wird Forschung dadurch erfahrbar.

Die Schulen sollen aber auch in direktem Kontakt zur jeweiligen Kommune bzw. Region stehen. In dem Maße, wie Netze, digitale Welten, Agenten u. dgl. mehr zur Verfügung stehen, können die Lehrer und Jugendliche versuchen, exemplarisch einzelne Themenstellung aus dem breiten Angebot einer Kommune herauszugreifen und durch Projekte zu bearbeiten. Dazu können -unter Einbeziehung der Netze- Planspiele mit direkter Mitwirkung von Eltern, Politikern, und Unternehmern gehören wie diverse Simulationsmodelle, Fachkonferenzen, 3D-Modelle von Gebäuden und Stadtteilen und vieles mehr. Eine solche themenzentrierte Interaktion mit der kommunalen Umwelt führt nicht nur in natürlicher Weise an die gemeinsame kommunale Realität heran; es steigert auch das Verantwortungsbewußtsein und fördert die heute weitgehend verlorengegangene Identifikation, wenn die Projektarbeiten tatsächlich auch Wirkungen zeigen, indem sie einen Beitrag zu realen Lösungen liefern.


Kommunen


Die Kommunen, die ebenso wie die Schulen unter einem Erneuerungsdruck stehen ohne über hinreichend finanzielle Mittel zu verfügen und die gleichzeitig stark reglementiert sind, könnten von einer solchen Öffnung langfristig ebenfalls stark profitieren. Nicht nur könnte man über eine gemeinsame Nutzung der Netzinfrastruktur die knappen Ressourcen besser nutzen, sondern das beständig schlechte Verhältnis zwischen Entscheidungszwang auf einer Seite, mangelnder Transparenz des Problems auf der anderen Seite, könnte durch den Einsatz dieser Technologie sowie durch die analysierenden und modellbildenden Aktivitäten der Schulen langfristig immer mehr aufgebessert werden. Gleichzeitig würde ein qualitativ neues Niveau der Bürgerinformation und -Beteiligung möglich. Es bestände die reelle Chance, der wachsenden Politikverdrossenheit der Bürger konkret und aktiv entgegenzuwirken.


Unternehmen


Die Unternehmen können auch zu potentiellen Lernfeldern der Schule werden. Ein Wirtschaftsunterricht, in dem man Simulationsmodelle und Planspiele der unterschiedlichen Wirtschaftsbereiche erarbeitet, anwendet und dann auch noch an der Realität überprüft ist mit Sicherheit interessanter und 'bildender' als jede Art von klassischer Textarbeit. Durch solche Arbeit entstehen Datenbanken und erklärende Modelle, die sowohl den Kommunalpolitikern wie auch allen Bürgern von realem Nutzen sein können. Das heute zu beobachtende weitgehende Nicht-Verhältnis zwischen Jugend und Wirtschaft würde auf diese Weise schon frühzeitig aufgebrochen; gleichzeitig könnte man die Verantwortung der Unternehmen für 'ihre' junge Generation und 'ihre' Schule fördern.



FORSCHUNG ZU NETZWELTEN, KNOWBOTIC INTERFACES UND KNOWBOTS


In der vorausgehenden Skizze eines möglichen synergetischen Modells ist die Rede von der Forschung, die 'vor Ort', 'zu den Bürgern' gebracht werden soll.

Das INM konzentriert sich mit seinen Forschungen z.Zt. auf nichtlinearen (chaotischen) Systemen sowie die Erforschung und Entwicklung aktiver Verstehenshilfen in Gestalt von Knowbots und in Verbindung mit einem Knowbotic Interface. Letzteres soll hier kurz erläutert werden.

Ein Knowbotic Interface ist ein Computerprogramm, das die Kommunikation zwischen Menschen, Netzwerken, digitalen Modellwelten sowie Knowbots ermöglichen soll. Entsprechend enthält es als Hauptkomponenten eine (i) eine digitale Welt, (ii) mindestens einen Knowbot, sowie (iii) diverse Schnittstellen zum menschlichen Benutzer, zu einem Netz, sowie zu diversen anderen Realwelt-Sensoren.

Dies ist eine rein logische Charakterisierung eines Knowbotic Interfaces die bzgl. der Art und Weise einer physikalischen Realisierung nichts besagt. Diese logische Beschreibung kann sowohl auf einen Multimedia-PC heutiger Machart mit zusätzlicher Sprachein- und Sprachausgabe zutreffen wie auch auf eine zukünftige nanotechnologische oder molekularbiologische Prothese, die man direkt am oder sogar im Körper trägt, unmittelbar verknüpft mit dem menschlichen Nervensystem.

Ein Knowbot ist ein Programm, das das menschliche Bewußtsein bis zu dem Ausmaß simuliert, als es notwendig ist, um die gewünschten Kommunikations- und Verstehensleistungen ermöglichen zu können. Die Bereitstellung künstlicher Bewußseinsleistungen setzt verschiedene Prozeßstrukturen voraus, die im Modell das leisten müssen, was in der Realität das Gehirn mit seinem Nervensystem und dem zugehörigen Körper leistet. Man könnte von daher auch sagen, ein Knowbot ist ein virtuelles_2 Gehirn, das ein virtuelles_2 Bewußtsein simuliert.

Das Konzept der virtuellen_2 Welt innerhalb eines Knowbotic Interfaces ist unscharf. Es gibt zwei Grenzfälle: (i) die virtuelle_2 Welt ist bis auf die Schnittstellen weitgehend 'leer'; (ii) die virtuelle_2 Welt repräsentiert annähernd realistisch den gesamten Lebensraum der Menschen (ein rein theoretischer Grenzfall, da er sich praktisch niemals wird einlösen lassen).

Im Fall (i) könnte der Knowbot zwar über geeignete Sensoren Zustände der Außenwelt wahrnehmen, es wäre ihm aber nicht möglich, all jene Erfahrungen zu sammeln, die sich aus den Aktionen eines Körpers in einer Welt ergeben. Welche Bewußtseinsleistungen damit aufgebaut werden könnten, ist eine offene Frage.

Im Fall (ii) könnte man dem Knowbot einen Avatar zuordnen, der in dieser virtuellen Welt den Körper des Knowbots vertritt. Damit wäre es dem Knowbot prinzipiell möglich, die Körpererfahrungen des Menschen anzunähern. Auf diese Weise könnte er seinen Erfahrungsraum jenem eines Menschen weiter angleichen.

Sowohl in Fall (i) wie auch in Fall (ii) ist es möglich, daß ein Knowbot auch untergeordnete mobile Einheiten (subordinated mobile units SMU) kontrolliert und steuert oder einfach nur in Funkverbindung mit autonomen Robotern in der realen Welt steht.

Die Weltschnittstelle eines Knowbotic Interfaces kann Sensoren und Effektoren z.B. eines ganzen Gebäudes oder gar eines ganzen Stadtteiles umfassen. Diese Möglichkeit bringt das Knowbotic Interface in die Nähe des neuen Paradigmas der intelligenten Architektur: Gebäude die 'fühlen' und 'denken'.

Welche virtuellen Bewußtseinsstrukturen sich in all diesen Fällen ergeben können, ist eine Frage zukünftiger Forschung.

Eine wichtige Eigenschaft der virtuellen Welt in einem Knowbotic Interface zeigt sich in der Vernetzung. Wenn mehrere Benutzer zugleich auf ihren jeweiligen lokalen Rechnern eine bestimmte Welt W aktiviert haben und diese Benutzer miteinander kommunizieren wollen, dann wird jeder Benutzer in der virtuellen Welt aller anderen Teilnehmer 'gespiegelt'; gleichzeitig werden alle Veränderungen, die in einer bestimmten virtuellen Welt von einem bestimmten Teilnehmer vorgenommen werden, ebenfalls in allen anderen virtuellen Welten 'gespiegelt'. Auf diese Weise hat der einzelne Benutzer den Eindruck, daß er mit allen anderen Teilnehmern eine einzige gemeinsame Welt teilt. Damit sind neuartige Kommunikations-, Interaktions- und Lernformen zwischen Menschen an verschiedenen Orten möglich.