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Marco Wehr

"unplugged heads 2.0" vom 09.10.2007
?Querdenken ? Form und Funktion des INM-Instiut für Neue Medien?

Marco Wehr

Marco Wehr, geboren 1961, ist studierter Physiker und Philosoph und lebt in Tübingen. Er promovierte mit einer wissenschaftstheoretischen Untersuchung über die Chaostheorie in Marburg, gleichzeitig arbeitet er seit 20 Jahren als Berufstänzer und gilt in seinem Bereich als einer der besten seines Fachs. Die Zeit bezeichnete ihn seiner sportlich-geistigen Doppelbegabung wegen als "Kopf mit Körper".
Moderation: interner LinkDr. Michael Klein, INM


Seine bisher erschienenen Veröffentlichungen:
Der Schmetterlingseffekt Turbulenzen in der Chaostheorie, Klett-Cotta, geb. mit Schutzumschlag, 41 s/w-Abb., Format 15,3 x 22,8 cm 224 Seiten, ISBN: 978-3-608-94322-1;
Die Hand ? Werkzeug des Geistes Marco Wehr, Martin Weinmann (Hrsg.), Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1999, geb. 407 Seiten, ISBN 3827402921
wurden hoch gelobt, auf die Liste der Wissenschaftsbücher des Jahres gewählt und weisen ihn als ungewöhnlichen und vielseitigen Autor aus.
Sein jüngstes Werk:
Welche Farbe hat die Zeit? Wie Kinder uns zum Denken bringen Eichborn Verlag, Frankfurt Main, 240 Seiten, ISBN 3821857935, EAN 9783821857930.



Chaos im Kopf - Das Leben in der semantischen Steinzeit

Marco Wehr´s Text zur Einstimmung auf unseren Diskurs
Spätestens in der Steinzeit bündeln sich zwei Entwicklungen, die in veränderter Form auch heute für uns von großer Bedeutung sind. Beide haben in hohem Maße mit dem menschlichen Bedürfnis zu tun, das Unberechenbare zumindest in Maßen kalkulierbar zu machen.
Zum einen begegnen wir in der Steinzeit der schon viel älteren Entwicklung technischer Fertigkeiten, mit deren Hilfe es möglich sein sollte, die als launisch empfundene Umwelt in vorhersehbarer Weise zu manipulieren bzw. sich gegen überraschende Vorkommnisse wie etwa Unwetter oder Dürren zu schützen. In diesen Kontext gehörten, die planmäßige Herstellung von Waffen, die in einer organisierten Jagd verwendet wurden, die Errichtung schützender Wohnstätten, das Feuermachen und primitive Formen des Landbaus.
Dienten Fertigkeiten dieser Art dazu, dem als willkürlich empfundenen Walten der Natur einen Teil seiner Bedrohlichkeit zu nehmen und auf diese Weise das Überleben zu sichern, so begegnen wir hier auch ersten Erklärungssystemen, mit welchen die Menschen versuchten, die Natur in einer ihnen verständlichen Form zu interpretieren, um so der äußeren Unberechenbarkeit eine ?innere Ordnung" entgegenzusetzen.
In dieser ?inneren Ordnung" ist der Mensch kein Spielball der Naturgewalten, sondern in einen von System zu System verschiedenen ?Kausalnexus" eingebunden. Dies gibt ihm ein Gefühl emotionaler Geborgenheit.
Der Mensch fühlt sich dem Naturgeschehen nicht mehr hilflos ausgeliefert. Im Gegenteil entwickelt sich die Überzeugung mit dem strengen Befolgen bestimmter Regeln auf das Naturgeschehen selbst Einfluss nehmen zu können. Hierzu gehörten und gehören alle Formen animistischer Riten, genauso wie die Gebete der Weltreligionen. Selbst die naturwissenschaftliche Berechnung einer Satellitenumlaufbahn muss man in diesem Kontext betrachten.
So versucht der Mensch die anfänglich als willkürlich empfundenen Phänomene nicht nur in einem sinnstiftenden Kontext zu interpretieren, er entwickelt auch Verhaltensweisen in dem Bemühen, diese in seinem Sinne zu beeinflussen, ihnen damit ihre Unberechenbarkeit zu nehmen und sie vorhersehbar zu machen. Betrachten wir als Beispiel die Zeichnung des ?Zauberers" in der altsteinzeitlichen Höhle ?Les Trois Freres". Teils gemalt, teils geritzt, mit Hirschfell und Geweih ausgestattet, blickt er aus vier Meter Höhe drohend auf den Betrachter. Dieser ?Zauberer" ist eigentlich ein Tänzer, eine magische Person, die Kraft ihrer Bewegung, in einer der Jagd vorweggenommenen Zeremonie, versucht, das Tier zum Gefangenen des Tanzes zu machen, um so die Geschicke zu beeinflussen. Dieser tanzende Magier ist ein Urahn aller Priester, Propheten und wissenschaftlichen Prognostiker.
Schlagen wir jetzt den Bogen zur Gegenwart, dann stellt man fest, dass sich die Funktion der Erklärungssysteme in starkem Maße verändert hat. Was in dem unausgesprochenen Bestreben geschaffen wurde, das Innenleben zu strukturieren und dem Menschen Sicherheit zu geben, verwandelt sich im Informationszeitalter ins Gegenteil.
Die Pluralität all unserer Weltentwürfe ist plötzlich durch eine gigantische, nach marktwirtschaftlichen Gesetzen funktionierende Informationsverteilungsmaschine omnipräsent und wird zur chaotisch empfundenen Außenwelt. Für uns, die wir mit diesem überbordenden Wildwuchs ungewichteter Information leben müssen, bewirkt dies vergleichbare Ängste, wie die ehemals in der Steinzeit als chaotisch empfundene Natur.
In der Konsequenz bewirkt das Bestreben zu ordnen nun die Entstehung von Meta-Erklärungssystemen, Erklärungen von Erklärungen. Diese Entwicklung befindet sich allerdings noch ganz am Anfang.
Wie ist das zu verstehen, dass die Pluralität unserer Weltentwürfe zur Außenwelt wird? Bis in die jüngste Vergangenheit war es absolut überlebensnotwendig, sicherzustellen, dass die Menschen genug zu Essen und zu Trinken hatten. Des Weiteren benötigten sie eine Schlafstatt, die sie vor Witterungsunbill schützte. Die Sicherung dieser Bedürfnisse stand im Zentrum des Lebens, weshalb sich auch die technischen Entwicklungen hauptsächlich mit Problemen dieser Art auseinandersetzten.
In großen Teilen der ersten Welt hat sich das mittlerweile in hohem Maße geändert. Die Technik hat in der Landwirtschaft, in der Energiegewinnung und in der Architektur nur noch mittelbar ein Auge auf diese Probleme richten müssen. Die Wechselwendigkeit der Natur hat, von einigen Katastrophen wie Erdbeben abgesehen, ihren Schrecken verloren.
Die angesprochene Mittelbarkeit kommt in einer kapitalistischen Marktwirtschaft durch die Verwendung des Geldes zustande. Diese erlaubt es, sich zu ernähren, ohne tatsächlich auf einen Acker gehen zu müssen und Kartoffeln zu ernten. Geld ist ein Äquivalent, welches es gestattet, eine Leistung gegen eine andere zu tauschen. Die materiellen Leistungen, wie etwa das Herstellen von Nahrungsmitteln, treten heute in den Industriestaaten zu Gunsten von Dienstleistungen immer weiter zurück. Womit aber handeln Dienstleistungen? Dienstleistungen handeln sehr oft mit Informationen, die somit in immer höheren Maße unsere Lebenswirklichkeit ausmachen. Pointiert könnte man sagen:
Musste man früher zuerst einmal überleben, um dann die Welt interpretieren zu können, so kommen wir jetzt immer mehr in die Lage, dass wir mit der Information von Erklärungssystemen umgehen können müssen, um damit über das Medium des Geldes unser Überleben zu sichern. Information wird damit zu einem nach marktwirtschaftlichen Gesetzen gehandelten Gut.
Durch den Buchdruck und in jüngerer Zeit natürlich durch das Fernsehen und das Internet, werden wir mit einer Vielzahl von Weltentwürfen überschüttet, die die Notwendigkeit erkennen lassen, diese zu ordnen und zu wichten. Das Dickicht der Information wächst täglich und verfilzt in immer stärkerem Maße, sodass die Wirkungszusammenhänge dieser semantischen Konstrukte für uns im gleichen Sinne undurchschaubar werden, wie für einen Steinzeitmenschen die Entstehung eines Gewitters. In diesem Kontext führt sich das Konzept der Information ad absurdum.
Die ganze Tragweite des Problems läßt sich exemplarisch an einem Untersystem der Informationsverbreitungsmaschinerie herausarbeiten, den Naturwissenschaften. In einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, in der die Qualität eines Forschers nach der Zahl seiner Veröffentlichungen bemessen wird, die also sowohl über seine Karriere und sein Gehalt, als auch über die ihm zur Verfügung stehenden Forschungsgelder bestimmt, gilt in besonderem Maße das Lessingzitat ?Wer all zuviel denkt, wird wenig leisten."
Die Konsequenz hiervon sind wissenschaftliche Moden, von denen wir in den letzten Jahrzehnten viele haben kommen und wieder gehen sehen. Man denke in diesem Zusammenhang an die Artificial Intelligence, die Katastrophentheorie, oder an Komplexitäts- und Chaostheorie. Sie verbreiteten sich anfänglich mit lawinenartiger Geschwindigkeit über den Erdball, neuerdings auch auf den Titelseiten von Hochglanzmagazinen, um dann genauso schnell wieder in der Versenkung zu verschwinden.
Der Grund hierfür ist in dem Umstand zu suchen, dass tausende von Wissenschaftlern wie in einem Ameisenstaat Strukturen schaffen, die sie in kürzester Zeit selbst nicht mehr überschauen. So werden Informationen aus den verschiedensten Fachgebieten zusammengetragen, ohne dass sich jemand die zeitraubende Arbeit machen würde, diese auf ihre Verträglichkeit zu prüfen. Bald schon zeigt sich, dass solcher Art entstandene ?semantische Konglomerate", in die mittlerweile Milliarden von Forschungsgeldern flössen, nicht in der Lage sind, die gemachten Versprechungen einzulösen. Das hat damit zu tun, dass die zu lösenden Problematiken in ihrer Schwierigkeit vollständig verkannt HI werden, wobei man gleichzeitig die eigene Problemlösungskompetenz überschätzt. Hier am Beispiel der Wissenschaft drängt sich schon in etwas überschaubarer Form die Notwendigkeit auf, einen inflationär wachsenden Berg von ?Informationen" zu ordnen und zu wichten, um kostspielige Fehlentwicklungen zu vermeiden. Zu diesem Zweck allerdings würde man die Strukturen ändern müssen.
Generalisten, die ich hier ?semantische Schleusenwärter" nennen möchte, müssten schon während des Forschungsprozesses in diesen eingreifen, um in verständlicher Form Beziehungen offen zu legen, die Spezialisten beim eigenen ?Tunnelbau" gerne übersehen. Wie diese neue Spezies Forscher allerdings auszubilden wäre, um in einem nächsten Schritt in den Forschungsalltag eingebettet werden zu können, ist eine offene Frage, die gelöst werden muss, da wir sonst in Informationen ersticken.



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